Cover SchwabenfluchtWir freuen uns Euch den Roman "Schwabenflucht: Ein kriminelles Gedankenspiel" von Jochen Bender als Fortsetzungsroman vorstellen zu dürfen.

Eine gute Gesellschaft ist keine Gemeinschaft
Thomas Schmid „Die Welt“ im Oktober 2016

Die EU ist implodiert, in Deutschland herrscht Bürgerkrieg. Dr. Jens Baitinger weigerte sich bis zuletzt, die Zeichen des gesellschaftlichen Zerfalls wahrzunehmen. Während seiner Tochter Pauline im letzten Augenblick die Flucht nach Australien gelingt, sitzt er mit dem Rest seiner Familie in Stuttgart fest. Mit den Nachbarn graben sie sich auf den Fildern ein, während ringsum blutige Kämpfe toben.
Im Remstal gelingt es Landrat Balmer, eine demokratische Gesellschaft aufrecht zu erhalten, tatkräftig unterstützt durch Sascha, einem jungen Mann mit einem düsteren Geheimnis. Familie Baitinger wagt schließlich die Flucht aus Schwaben und strandet als mittellose Flüchtlinge in Arabien.

„Weil die Hellenen das humanste Volk am Mittelmeer
sind. Die Spanier oder Italiener würden bettelarme,
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verlauste Gesellen wie uns nicht in ihr Land lassen.
Von den Franzosen unter Marine Le Pen brauchen wir
erst gar nicht reden.“
Vor der Gangway der Medusa gab es Gedränge. Unter
dem Gewicht meines Koffers ächzend, hielt ich an. Soeben
wollte ich meinen Rucksack abstellen, als ein
heftiger Schlag auf die rechte Seite meines Kopfes
mich zu Boden warf. Kurz davor das Bewusstsein zu
verlieren nahm ich wahr, dass die Menschen um mich
herum in Panik zu gerieten. Mein Herz schlug wild und
verzweifelt. Um nicht zu Tode getrampelt zu werden,
versuchte ich mich wieder aufzuraffen. Keller stemmte
sich mit aller Kraft gegen die andrängende Menge und
versuchte mich hierdurch zu schützen. Ein genauso
tapferes wie sinnloses Unterfangen. Jemand trat auf
mein Bein. Ich sank erneut in Richtung Boden. Mit
letzter Kraft klammerte ich mich an die Umstehenden,
um nur nicht unter ihre Füße zu geraten. Schüsse fielen.
Ich konnte nicht mehr und ließ schicksalsergeben
los. Sofort stürzte ich auf das Kopfsteinpflaster. Tränen
der Wut, nun doch Pauline nie wiederzusehen, traten
in meine Augen.
Da ließ der Druck der Umstehenden plötzlich nach.
Kellers eiserne Pranke griff mich am Kragen und zog
mich hoch. Benommen kam ich wieder auf die Füße.
„Geht´s?“, fragte er mit ehrlicher Besorgnis.
„J..ja“, antwortete ich unsicher.
Mit der Hand langte ich an die Stelle des Kopfes, auf
die ich den Schlag erhalten hatte. Sie fühlte sich
feucht an. Die Berührung tat höllisch weh. Erschrocken
zog ich die Hand zurück. Blut klebte an ihr.
„Du wurdest von einem Stein getroffen, einem größeren
als die Weiber bisher warfen. Du warst nicht der
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einzige. Panik brach aus. Aber die Sicherheitskräfte
schossen in die Luft und drängten mit ihren Prügeln
die Menge zurück.“
Keller packte meinen schweren Rucksack, nickte mit
dem Kinn in Richtung Gangway. Noch immer benommen
stolperte ich auf sie zu, griff mit beiden Händen
rechts und links nach dem rostigen Geländer und stieg
die steile Bretterpiste empor. An Bord der Medusa
wurden wir durch eine Luke dirigiert und mussten im
Schiffsinneren eine ebenso rostige Treppe hinab. So
gelangten wir in einen geräumigen Stückgut-Laderaum
von mindestens sechs Metern Höhe. Dicht an dicht
drängten sich hier die Menschen. Bald steckten wir
fest. Es ging weder vor noch zurück. Sollte ich hier die
ganze Überfahrt ausharren?
„Ich will lieber an Deck!“, rief ich panisch.
„Pech, da hätten Sie früher kommen müssen“, meinte
ein Mann neben mir. „Aber seien Sie froh. Bei Nacht
weht da droben ein eisiger Wind. Und wenn wir erst
einmal in einen Sturm geraten, wird es an Deck so
richtig ungemütlich.“
„Glauben Sie es ist besser, wenn hier unten alle vor
Seekrankheit kotzen und sich in die Hose pissen?“
Was auch immer ich durchzustehen hatte: Ich betete,
dass der rostige Kahn wenigstens nicht unterging!
In diesem Moment erscholl von Deck ein lautes Tuten.
Die Maschinen nahmen stampfend ihre Arbeit auf. Der
Boden unter uns erzitterte. Offensichtlich legte die
Medusa soeben ab.

In Schorndorf musste sich Landrat Balmer neuerdings
in relevanten Angelegenheiten mit einer von der bayrischen
Regierung entsandten Beamten-Delegation ab-
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stimmen. Das passte dem geborenen Alpha-Tier gar
nicht. Seine hierdurch verursachte schlechte Laune ließ
er vornehmlich an mir aus.
Dies war nicht der einzige Grund, aus dem ich heute
ungewohnt früh Feierabend machte. Ich stand kurz davor,
beim Landrat ganz aufzuhören. Politik und Verwaltung
hatten mich nie gereizt. Nur die von mir eingesehene
Notwendigkeit, jemand müsse zum Wohle
der Menschen gewisse Dinge anpacken, hatte mich in
Balmers Vorzimmer geführt. Es galt, ihn gegen Struve
und andere Kriegsherren zu stärken, damit sich diese
nicht zu Warlords entwickelten. Das war uns gelungen.
Struve war ausgeschaltet und unsere Kämpfer wurden
in eine demokratisch kontrollierte Armee integriert.
Überhaupt lief es für die einfachen Leute besser, seit
wir wieder zu einem funktionierenden Staat gehörten.
Gegenüber meinem Haus lungerte ein vierschrötiger
Typ in Flecktarn und rauchte eine Zigarette. Angst fuhr
mir in den Magen. Genau solche Typen hatte Struve
mit Vorliebe um sich geschart. War er hier, um Rache
zu üben? Mit äußerster Anspannung, bereit einen etwaigen
Angriff abzuwehren, zog ich meinen Schlüssel
aus der Tasche. Warum war ich bisher nur so töricht
gewesen, auf eine Pistole zu verzichten? Mit ihr würde
ich mich jetzt deutlich sicherer fühlen.
Meine Hände zitterten. Ich brachte den Schlüssel kaum
ins Schloss. Um dem Mann nicht den Rücken zuzukehren,
stand ich quer zur Tür, was die Sache nicht
vereinfachte. Endlich gelang es mir. Hektisch öffnete
ich die Tür, ging hinein und schlug sie hinter mir wieder
zu. Mit der massiven, alten Eichentür zwischen mir
und ihm fühlte ich mich sicherer. So stand ich einige
Augenblicke mit wild pochendem Herzen, den Rücken
an die Tür gelehnt. Aus der Küche drangen das Gezeter
zweier Frauen und der Gestank kochenden Kohls zu
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mir. Wie immer brannte am Fuße der alten Holztreppe
eine erbärmlich schwache Energiesparlampe und verbreitete
schummriges Licht. Ich stieß mich von der Tür
ab, lief auf die Stiege zu. Diese mehr oder weniger im
Dunkeln hochzusteigen war ich mittlerweile gewöhnt.
Heute schienen mir die alten Bohlen und Stiegen der
Treppe besonders laut zu knarzen. Überhaupt gab das
alte Fachwerkhaus heute besonders viele, bedrohlich
klingende Geräusche von sich. Lag es am Haus? Oder
an meinen durch die Bedrohung geschärften Sinne? Jedenfalls
verspürte ich den starken Wunsch, in meine
Kammer zu schlüpfen, um mich zu verbarrikadieren.
Selbst die Aussicht auf eine warme Mahlzeit würde
mich heute nicht wieder aus ihr hervorlocken. Der
Schlüssel steckte bereits in der Tür meiner Kammer,
als im Dunkel hinter mir das überlaute Knarzen einer
Bohle die Anwesenheit einer anderen Person verriet.
Kampfbereit, vollgepumpt mit Adrenalin, fuhr ich herum.
„Yannick?“, erklang es fragend aus dem Dunkel.
*
Der rostige, überladene Kahn schaffte trotz heftiger
Winterstürme die Überquerung des Mittelmeeres. Im
Hafen von Thessaloniki legten wir an. Die Menschen
hatten es so eilig von Bord der Medusa zu kommen,
dass es an der Gangway zu Rangeleien und lautstarken
Streitereien kam. Keller und ich warteten geduldig ab,
bis der Andrang nachließ. Dann griffen wir unsere
Rucksäcke und gingen ebenfalls von Bord.
Wieder einen Fuß auf europäischen Boden zu setzen,
war lange nicht so erhebend, wie ich es mir ausgemalt
hatte. Selbst die Erleichterung, den stinkenden Rost-
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Kahn zu verlassen, wurde durch meine Angst vor der
vor mir liegenden Ungewissheit überlagert.
„Wir sind zurück in Europa und niemand interessiert
sich dafür“, stellte ich nüchtern fest. „Es gibt hier nicht
einmal Grenzkontrollen.“
„Warum auch? Krieg und wirtschaftlicher Zusammenbruch,
verbunden mit Hungersnöten und Krankheitsepidemien,
schrecken genug ab.“
„Haben die Griechen keine Angst vor uns?“
„Doch.“
Keller zeigte mit dem Finger auf den meiner Aufmerksamkeit
entgangen Stahlturm. An der Spitze war ein
Maschinengewehr montiert, mit dem ein Uniformierter
in unsere Richtung zielte. Unterhalb des Turmes
hielt sich eine Gruppe berittener Polizisten bereit.
„Ich schätze mal, sobald einer aufmuckt, machen die
mit ihm kurzen Prozess.“
„Trotzdem, die Griechen leiden doch selbst Hunger.
Mich wundert schon, dass die uns reinlassen.“
„Wir bringen schließlich Geld. Die Araber liefern Öl als
Bezahlung dafür, dass die Griechen uns mit ihren
Schrottkähnen übers Mittelmeer schippern. Jeder der
hier von Bord geht, trägt begehrte Devisen bei sich,
die wir hier ausgeben müssen.“
„Glaubst du unser Geld reicht für die Fahrt bis
Deutschland?“
„Nein. Wir nehmen diesen Weg.“
Er zeigte auf ein Schild. Es handelte sich um einen weißen,
zerbeulten und verrosteten Wegweiser, auf dem
ein Wanderer mit Rucksack abgebildet war.
„Nur 1.427 Kilometer? Wenn wir uns ranhalten, sind
wir zum Beginn des Frühlings wieder zu Hause.“
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„Du hast die Identität eines Nachbarn angenommen?“
Landrat Balmer starrte mich fassungslos an.
„Tut mir leid, aber ich wollte nicht Sie täuschen.“
„Wen dann?“
„General Wahler! Meine Eltern trauten sich nicht weg.
Daher durfte der General nicht erfahren, dass ich für
Sie arbeite. Wahler hätte keine Sekunde gezögert, mich
mit dem Leben meiner Eltern zu erpressen.“
Balmer starrte mich grimmig an. Schließlich nickte er.
„Dem Wahler wäre so etwas zuzutrauen. Trotzdem hättest
du zumindest mir gegenüber mit offenen Karten
spielen müssen. Wäre es rausgekommen, hättest du
mich mit ins Verderben gerissen.“
„Tut mir leid!“, ich senkte beschämt den Blick. „Das
war mir nicht bewusst.“
Er nickte grimmig.
„Wieso erzählst du mir ausgerechnet heute davon?“
„Aus zwei Gründen, zum einen tauchte überraschend
meine Schwester auf. Da will ich das Lügenspiel nicht
länger aufrechterhalten. Zum anderen…“
Ich brachte kein weiteres Wort hervor. Balmer sah
mich scharf an, dann entgegnete er:
„Das mit deiner Schwester freut mich für dich. So wie
du dreinschaust, scheint dein zweiter Beweggrund weniger
erfreulich zu sein.“
Ich nickte stumm.
„Deine Eltern?“
Erneutes Nicken.
„Tot?“
Ich musste mich mehrmals Räuspern.
„Meine Mutter liegt in Untertürkheim begraben.“
„Im Inselbad?“
„Ja.“
„Wann ist Sie gestorben?“
„Vor gut einem Jahr.“
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„Du hast es aber eben erst erfahren? Mein Beileid zu
deinem schweren Verlust. Was ist mit deinem Vater?“
„Ihm gelang damals mit unserem Nachbarn die Flucht.
Sascha reiste mit meinen Papieren als sein Sohn.“
„Wo sind sie jetzt und wie geht es ihnen?“
„Leider weiß ich es nicht. Sie flüchteten zunächst nach
Ungarn. Keine Ahnung, ob sie noch dort sind. Aber da
meine Eltern nicht mehr in der Filderfestung leben,
brauche ich mich nicht mehr vor Wahler zu fürchten.“
Wir sahen einander stumm an.
„Willst du weiter für mich arbeiten?“
„Es ist ein guter Zeitpunkt, um bei Ihnen aufzuhören.“
„Das sehe ich auch so. Weißt du schon, was du stattdessen
tun willst?“
„Mein Interesse gilt der Technik. Eine Gruppe fähiger
Ingenieuren plant auf dem Gelände des Daimler-Werks
eine neue Fahrzeug-Produktion aufbauen. Einige der
Maschinen dort lassen sich wieder instand setzen. Was
sie sonst noch brauchen, beabsichtigen sie aus anderen
ehemaligen Maschinenbau-Betrieben zu organisieren.
Als erstes wollen sie Traktoren fabrizieren.“
„Eine gute Idee, Traktoren brauchen wir dringend. Ich
kenne Herrn May, den Kopf der Gruppe. Soll ich bei
ihm ein Wort für dich einlegen?“
„Nicht nötig. Er freut sich schon auf meine Mitarbeit.“
„Auch gut. Zuletzt möchte ich dich noch bitten auf einer
Pressekonferenz publik zu machen, wessen Identität
du aus welchen Gründen vor deiner Arbeit für mich
annahmst.“
Ich war froh, doch nicht direkt am Kai in Thessaloniki
loslaufen zu müssen. In klapprigen Buden und rostigen
Containern wurden Transfers zur Grenze nach Mazedonien
angeboten. Die Geschäftemacherei erinnerte
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mich an die Karibik-Kreuzfahrt mit meiner geliebten
Frau Carolin. In jedem Hafen waren wir mit Angeboten,
unser Geld auszugeben, überschwemmt worden.
Mit dem vielfach größeren Luxus-Dampfer war seinerzeit
nur ein Bruchteil an Passagieren angekommen,
wie jetzt mit der rostigen Medusa. In der Karibik hatten
wir die Qual der Wahl zwischen romantischen
Fahrten in der Pferde-Droschke, Besichtigungen von
Zigarren-, Parfüm oder Seifenfabriken und ähnlichen
Beschäftigungen der Übersatten. Was gäbe ich dafür,
jemals wieder in eine derartige Verlegenheit zu geraten!
Stattdessen konnten wir uns jetzt zwischen genau
zwei Angeboten entscheiden, der Fahrt in einem
klapprigen Bus oder auf einem rostigen Lastwagen.
Griechen hatten noch nie viel von Kapitalismus und
Marktwirtschaft gehalten. Auch jetzt kostete die Fahrt
bei jedem Anbieter das Gleiche. Da der Bus das Doppelte
kostete, entschied Keller sich für den Lastwagen.
„Lass uns doch lieber den Bus nehmen!“, flehte ich, als
wir vor ihm standen.
„Der ist zu teuer, stell dich nicht so an!“
Keller stemmte seinen Rucksack auf den Rand der Ladefläche.
Mittels zweier in die abgekippte Heckklappe
eingelassener Tritte kletterte er hoch. Ich versuchte es
ihm gleichzutun. Mein Rucksack musste wegen der
daran befestigten Arzttasche schwerer als seiner sein.
Keller beugte sich hinab. Gemeinsam schafften wir
auch meinen Rucksack nach oben. Er reichte mir die
Hand, aber ich wies sie zurück. Schwer schnaufend erklomm
ich den zweiten Tritt, fand aber keinen Halt für
meine Hände. Gerade als ich nach hinten zu kippen
drohte, zog Keller mich am Kragen hoch.
„Danke.“
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„Keine Ursache.“
Ohne Zögern griff er beide Rucksäcke und trug diese
zur Mitte. Auf seinen Rucksack waren ein Zelt und
zwei Schlafsäcke gepackt, auf meinen die mit dem roten
Kreuz gekennzeichnete Arzttasche.
Hinter uns erklommen mehr und mehr Menschen die
Ladefläche. Die Seitenwände waren durch Holzaufbauten
erhöht worden, damit die außen stehenden von
der Masse nicht heruntergestoßen wurden. Endlich
war die Ladefläche voll. Die Klappe am Heck wurde geschlossen.
Ich war froh, vielleicht fände ich sogar genügend
Platz, mich auf dem Boden niederzulassen.
Daraus wurde nichts. Über zwei Leitern gelangten weitere
Passagiere auf die Ladefläche. Erst als wir so dicht
standen, dass absolut keiner mehr draufpasste, hatte
der Eigentümer des Gefährts ein Einsehen. Stotternd
und hustend startete der Diesel. Der überladene LKW
rumpelte los.
Die Kais lagen verwaist da. Arbeiter demontierten an
der Straße die Leitplanken, vermutlich weil deren
Stahl anderswo dringender benötigt wurde. Menschen
waren zu Fuß, auf dem Rad oder mit dem Eselskarren
unterwegs. PKW schien es hier nicht mehr zu geben.
Mittels Eselskarren wurden Lebensmittel, Kisten und
Kartons transportiert. Die Griechen auf den Straßen
waren hager bis ausgezehrt, kein Vergleich mit den
häufig übergewichtigen Bürgern Saudi-Arabiens.
Schon bei meiner lange zurückliegenden Griechenland-
Reise waren mir die Häuser der Städte grau und
hässlich erschienen. Mittlerweile war in fast jedem
Gebäude das Glas eines Teils der Fenster durch Karton
oder Holzplatten ersetzt, was diesen Eindruck nicht
verbesserte. Griechenland war im Gegensatz zu
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Deutschland oder Frankreich einem Bürgerkrieg entgangen.
Trotzdem sah man überall die Spuren des
langjährigen Niedergangs.
Wir ließen die Stadt hinter uns. Felder tauchten links
und rechts der Autobahn auf. Sie waren abgeerntet
und winterkahl. Mittlerweile war ich froh, so eng zwischen
andere Menschen eingekeilt zu sein, machte
dies doch den eisigen Fahrtwind erträglicher. Linkerhand
zog in der Ferne ein Gebirge vorbei, während der
Laster in langsamem Tempo vorwärts tuckerte. Bei
Einbruch der Dunkelheit erreichten wir die mazedonische
Grenze. Auf einem staubigen, mit Steinen und
Müll übersäten Platz baute Keller unser Zelt auf, während
ich geduldig an der einzigen Leitung um Wasser
anstand. Es hieß, am nächsten Morgen um neun würde
die Grenze geöffnet. Ich hoffte, die Mazedonier ließen
uns dann passieren.
Um wenigstens etwas Isolierung gegen die Kälte und
die Härte des Bodens zu bekommen, stopften wir Plastikmüll
und vertrocknete Pflanzenreste unter den Zeltboden.
Dennoch lag ich in meinem Schlafsack mehr
als ungemütlich. Schließlich schlief ich in der Hoffnung
ein, morgen auf der anderen Seite der Grenze einen
weiteren Lift zu finden.
Im Jahr 1903 startete die in Cannstatt gegründete Gottlieb
Daimler AG im benachbarten Untertürkheim die
Produktion von Motoren. Durch die schweren Bombardements
im zweiten Weltkrieg wurde diese erstmals
für drei Jahre unterbrochen. Nach dem Krieg barg ein
Häufchen unentwegter Optimisten aus den Trümmern
Maschinen, die noch funktionierten oder sich zumin-
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dest reparieren ließen. Schritt für Schritt bauten diese
die Fabrik wieder auf.
Vor drei Jahren brachte der Bürgerkrieg die Produktion
erneut zum Stillstand. Entscheider, darauf gedrillt in
Standorten zu denken und Heimat als sentimentalen
Quatsch abzutun, schrieben skrupellos den Standort
Deutschland als nicht zukunftsfähig ab. Urheberrechte,
über Jahrzehnte erworbenes Wissen und Maschinen
wurden an den Höchstbietenden verhökert, um das eitle
Leben jener global denkenden Wirtschaftselite zu finanzieren.
Man munkelte, seither würden Mercedes-
Limousinen in Arabien produziert. Dessen war ich mir
nicht sicher. Letztendlich war es egal. Wir brauchten
hier, bei uns in Schwaben, fürs Überleben dringend
Traktoren und Lastwagen.
Um diese zu produzieren, stand ich mich mit einer
kleinen Gruppe unentwegter Optimisten auf historischem
Boden. Nach dem zweiten Weltkrieg hatte es
auf dem Werksgelände mit Sicherheit deutlich schlimmer
ausgesehen.
„Wem gehört das Ganze hier eigentlich?“
„Wenn wir wollen uns“, antwortete ich.
„Echt?“
Ich nickte.
„Wie das?“
„Daimler bezahlt seit Jahren keine Steuern mehr. Das
Finanzamt erwirkte einen Pfändungstitel, um das Land
samt Gebäuden und Maschinen an den Höchstbietenden
zu verkaufen. Viel Konkurrenz werden wir nicht
haben. Geben wir ein Gebot ab, gehört es uns.“
Die anderen, bis auf mich allesamt frühere Daimler-
Mitarbeiter oder Ingenieure bei Zulieferern, starrten
mich fassungslos an. Mein Ausflug in die Politik war
nicht umsonst gewesen.
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„Wir können hier also unser eigenes Ding aufziehen,
würden für uns selbst schuften?“
Ich nickte. Freudiges Strahlen erhellte die mich umgebenden
Gesichter, bis auf eine Ausnahme.
„Und was passiert, wenn der ganze Mist vorüber ist?“,
nörgelte Helmer.
„Welchen Mist meinst du?“
„Die Kämpfe, das Töten, den ganzen Scheiß halt!“
„Das kann noch lange dauern. Die alte Bundesrepublik
wird es nie wieder geben. Vielleicht gehören wir auf
Dauer zu einem neuen Staat Bayern.“
„Ich weiß nicht…“
„Dann mach halt nicht mit! Verkrieche dich in deinem
Loch und warte ab, bis wir alle verhungert sind!“
„Blinder Aktionismus rettete noch niemand vor dem
Verhungern!“, giftete Helmer zurück.
„Nichtstun ebenfalls nicht!“
„Wie stellt ihr euch das eigentlich vor? Auf der anderen
Seite des Neckars sitzen die Nationalisten. Glaubt
ihr, die lassen uns hier in Ruhe die Fabrik reparieren?“
„Falls nicht, suchen wir die benötigen Maschinen aus
und schaffen sie fort von hier.“
„Womit?“
Fragend sah ich mich im Kreis der Techniker um. Betreten
sahen sie zu Boden.
„Reichen unsere Lastwagen nicht?“
„Nein, die reichen nicht!“, höhnte Helmer. „Wir
bräuchten für den Transport der Maschinen Tieflader
und mobile Schwerlastkräne!“
„Die Bayern...“
„...besitzen vielleicht entsprechendes Equipment, wir
aber kein Geld, sie zu bezahlen!“
Verärgert sah ich erst ihn und dann die anderen an. Wir
waren alles andere als ein Haufen unentwegter Optimisten.
Helmer war in Fahrt.
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„Außerdem brauchen wir die Gießerei in Mettingen,
ohne die geht gar nichts! Deren Abtransport kannst du
gleich vergessen! Die Nationalisten schössen uns zusammen,
ehe wir auch nur einen Bruchteil der Gießerei
demontiert hätten. Untertürkheim produzierte nur Motoren
und Getriebe, keine kompletten Fahrzeuge. Die
schraubte vor der ganzen Malaise Sindelfingen zusammen.
Jetzt rate Mal, wer dort das Sagen hat!“
Hämisch sah er mich an.
„Du bist eine schwarzmalerische Unke! Hau doch ab,
wenn du nicht an unseren Erfolg glaubst!“
Beleidigt drehte Helmer sich um, stiefelte durch die
Fabrikhalle Richtung Ausgang. Riesige Maschinen in
blau und grau, deren Funktion ich nicht kannte, standen
bei seinen Abgang Spalier. Über allem lag eine dicke
Schicht Staub, teilweise auch Gesteinsbrocken und
Glassplitter vereinzelter Granateinschläge. Unterm
Strich befand sich die Halle in erstaunlich gutem Zustand,
grenzte sie doch direkt ans Niemandsland auf
der anderen Flussseite. General Wahlers Geschütze
könnten von der Filderfestung aus das Gelände mühelos
beschießen. Gab es Niemandsland und Filderfestung
überhaupt noch? Oder war alles auf der anderen
Seite mittlerweile fest in der Hand der Nationalisten?
„Vielleicht können wir ein paar kleinere Maschinen
abtransportieren und mit der Produktion von Traktoren
beginnen“, startete ich einen neuen Anlauf.
„Vergiss es!“
„Warum?“
Wortlos wies May in Richtung Hallenausgang.
„Warum nicht?“, fragte Pauline am Abend verzweifelt.
„Wir können mit Ihnen keinen Frieden schließen! Es
sind verdammte Nationalisten!“
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„Trotzdem müssen wir dieses sinnlose Töten beenden!
Wir oder die, für beide ist kein Platz! Läuft es darauf
hinaus?“
„Sie töteten heute vor unseren Augen Helmer!“
Beim Verlassen der Fabrikhalle hatte ihn ein Heckenschütze
erwischt.
„Das ist furchtbar! Genauso furchtbar und sinnlos mordeten
Menschen in allen früheren Kriegen und werden
sie es in allen künftigen Kriegen tun. Für mich ein
Grund mehr, das sinnlose Töten zu beenden.“
„Es sind Nationalisten!“
„In erster Linie sind es Menschen!“, hielt sie dagegen.
„Menschen, die vermutlich ähnliche Probleme haben
wie wir hier. Probleme, die wir nur gemeinsam lösen
können!“
Schweigend sah ich sie möglichst missmutig an. Das
beeindruckte meine große Schwester allerdings nicht.
„Unsere Kindersterblichkeit entspricht mittlerweile jener
der ärmsten Länder Afrikas. Gleiches gilt übrigens
für unsere Geburtsraten, seit es weder Kondome noch
Pillen in ausreichendem Maße gibt. Die Leute hier
hungern, dabei ist erst Januar. Selbst wenn die Nationalisten
uns nicht angreifen, werden Menschen vor unserer
nächsten Ernte verhungern, vielleicht Hunderte,
vielleicht aber auch Tausende oder gar Zehntausende.“
„Das kann ich nicht ändern.“
„Aber du kannst dazu beitragen, die nächste Ernte höher
ausfallen zu lassen. Wenn ihr es tatsächlich schafft
Traktoren zu produzieren, werden wir künftig mehr
Lebensmittel haben. Wir müssen jetzt anfangen, damit
uns kein weiterer Hungerwinter bevorsteht!“
Das Remstal hatte nicht nur die komplette ökologische
Energiewende vollzogen, auch unsere Landwirtschaft
war einhundert Prozent biologisch geworden. Leider
war dadurch ihre Produktivität auf die des achtzehnten
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Jahrhunderts gesunken. Wir besaßen weder Kunstdünger
noch Pestizide und kaum schweres Ackergerät. Die
Bayern rückten nichts davon raus, besaßen anscheinend
selbst nicht einmal genug für ihr Stammland. Sie
hatten Truppen geschickt, die sich auf den Hügeln über
dem Tal eingruben. Hoffentlich schreckte dies die Nationalisten
von einem Angriff ab. Ansonsten blieben
wir auf uns allein gestellt.
„Vielleicht geht es der Landwirtschaft der Nationalisten
gar nicht so schlecht wie der unsrigen.“
„Dann sollten wir uns von denen besetzen lassen.“
Entsetzt sah ich meine Schwester an.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“
„Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“
Keller rüttelte mich grob wach. Es war stockfinster.
„Was ist los?“, fragte ich erschrocken. „Werden wir
überfallen?“
„Nein, steh einfach auf und pack zusammen.“
„Wie spät ist es?“
„Sieben Uhr.“
„Aber der Grenzübergang öffnet doch erst um neun!“
„Egal, wir stellen uns schon einmal davor. Dann kommen
wir gleich als Erste durch.“
Vor mich hin nörgelnd zog ich mich an, ehe ich mit
steifen Gliedern aus dem Zelt kroch. Draußen empfing
mich ein grandioser Sternenhimmel. Mein Atem kondensierte
zu weißen Wolken. Keller baute unser Zelt
ab. Ich tat so, als würde ich ihm dabei helfen. Ohne
Frühstück machten wir uns auf in Richtung Grenze.
Trotz der Kälte überfiel mich die Erinnerung an einen
besonders heißen Sommer. Pauline zuliebe campten
wir in den Dünen der französischen Atlantikküste. Der
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Zeltplatz war gigantisch. Gleich am ersten Abend verirrte
ich mich auf der Suche nach der Dusche heillos.
Erneut wanderte ich durch ein endloses Camp.
„Wir sind nicht die ersten.“
„Leider wohl nicht.“
Einige andere Flüchtlinge packten ebenfalls ihre Zelte.
Vor uns marschierten Menschen mit großen Rucksäcken
oder Rollkoffern in Richtung Grenzübergang. Dort
angelangt stellten wir uns ans Ende der Warteschlange.
„Guten Morgen“, grüßte Keller die Männer vor uns.
„Morgen“, grüßten diese zurück. „Wollt ihr es heute
auch auf jeden Fall nach drüben schaffen?“
„Klar, dürfte ja auch kein Problem sein.“
„Hoffen wir, dass du Recht behältst. Ein blöder Querulant
vor uns könnte alles vermasseln. Gestern standen
wir stundenlang vergeblich an.“
„Wieso das?“
„Ein anderer Flüchtling beschwerte sich bei den Grenzern.
Er bestand darauf, nicht mehr als die offiziellen
Visa-Gebühren von dreißig Dollar zu bezahlen. Die Beamten
reagierten verärgert, wollten ihn aus dem Gebäude
schmeißen. Da schlossen sich andere seinem
Protest an. Es kam zu einem Tumult. Die Grenzer feuerten
Tränengas in die Wartenden, prügelten die
Flüchtlinge im Gebäude zusammen und schlossen den
Übergang. Angeblich machen sie heute wieder auf.“
„Wieviel Geld verlangen die Beamten?“
„Dreißig Dollar für den Staat und zwanzig für sich.“
Erst am Mittag passierten wir die Grenze. Die erste
Hürde war genommen. Erleichtert setzten wir die
Rucksäcke auf und liefen los. Hoffnungsvoll sah ich
mich um.
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„Was suchst du?“
„Einen Lastwagen oder sonst ein Transportmittel.“
„Vergiss es! Den Mazedoniern fehlt das Geld für Ersatzteile
aus dem Ausland und die industrielle Basis,
um selbst welche herzustellen. Bei denen wird kaum
noch ein motorisiertes Fahrzeug fahren.“
„Wie kommst du darauf?“
Wortlos zeigte er auf eine offene Halle hinter dem
Grenzübergang. Dort standen mehrere Kutschen. Die
zugehörigen Pferde futterten in einem abgetrennten
Teil der Halle Heu.
„Wenn selbst Beamte, die unsere Dollars in ihre Taschen
stecken, mit Kutschen unterwegs sind, wird es
für uns keine Busse oder Lastkraftwagen geben.“
Keller behielt Recht. Die Ärmlichkeit der Häuser und
Hütten, an denen wir vorbeikamen, schockierte mich.
Ich musste an Saudi-Arabien denken. Die Menschen
dort fuhren nagelneue Geländewagen und Pickups,
wohnten in luxuriösen Häusern mit allem Komfort.
Ähnlich wie ich jetzt auf Arabien starrte, hatten vermutlich
jahrzehntelang die Bewohner armer Staaten
auf uns gestarrt. Wie hatte Europa einen derart drastischen
und raschen Niedergang hinbekommen?
Nachmittags warb am Straßenrand ein handgemaltes
Schild auf Deutsch. Angeboten wurden Kartoffeln,
zwei Kilo für nur einen Dollar. Wir verständigten uns
wortlos. Auf unser Klopfen öffnete ein untersetzter
Grauhaariger in zerrissener Arbeitshose und blau-rotkariertem
Hemd. Er lächelte uns freundlich an.
„Grüß Gott, was kann ich für Sie tun?“
„Sie sprechen Deutsch?“
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„Ich lebte und arbeitete über zwanzig Jahre in Ihrem
Land. Als man dort anfing aufeinander zu schießen,
kehrte ich hierher ins Haus meiner Eltern zurück.“
„Da hatten Sie mehr Glück als wir. Für uns gab es kein
Elternhaus in einem anderen Land.“
„Wohin flüchteten Sie?“
„Nach Saudi-Arabien.“
„Jetzt kehren Sie freiwillig zurück? Ist der deutsche
Bürgerkrieg vorüber? Unser staatlicher Rundfunk behauptet,
die Kämpfe bei Ihnen halten mit unverminderter
Härte an.“
Irritierende Hoffnung lag in seinem Blick.
„Würden Sie sich über das Ende des Kriegs freuen?“
„Aber natürlich! Sehen Sie doch nur, was die Bürgerkriege
in Deutschland und Frankreich aus Europa
machten! Ohne die beiden Kammern seines Herzens
ist der Kontinent schwach.“
Wir sprachen noch eine Weile mit ihm. Es berührte
mich, wie sehr dieser fremde Mann uns Deutschen
wünschte, möglichst rasch zu einem friedlichen Miteinander
zurückzufinden. Schließlich kauften wir ihm
zehn Kilo Kartoffeln ab.
Mit einem mulmigen Gefühl, eine weiße Fahne in der
Hand, stand ich auf der Brücke. Zuletzt war ich mit
Balmer in Hofen gewesen, um unsere Grenze für die
muslimischen Flüchtlinge zu öffnen. Jetzt gab es auf
der anderen Seite keine Moslems mehr.
„Was willst du?“, wurde ich laut angerufen.
„Reden!“
„Worüber?“
„Gemeinsam mit euch Traktoren zu bauen.“
„Was sagst du?“
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Ich wiederholte meine Worte. Damit hatten sie nicht
gerechnet, zumindest blieb eine Antwort aus. Abwartend
verharrte ich. Nichts geschah. Zögernd ging ich
einige Schritte weiter in Richtung Feindesland.
„Habt ihr mich jetzt verstanden?“
„Unser Hauptmann will dich anhören.“
Erleichtert lief ich weiter. Ich umkurvte mehrere Betonsperren
bis zu einer Befestigung aus Sandsäcken.
„Hier lang!“
Ein Mann zeigte sich. Hinter der Befestigung stieß ich
auf weitere ausgemergelte und erschöpfte Gestalten.
Sie unterschieden sich durch nichts von den Kämpfern
auf unserer Seite. Pauline hatte Recht, der ganze
Scheiß hier war absolut sinnlos. Sie brachten mich zu
einem hageren Weißhaarigen in Uniform, ein rotes Barett
auf seinem Kopf. Eine Gruppe müder und ungepflegter
Kämpfer umringte uns. In der Hand hielten sie
mehr oder weniger lässig ihre Schnellfeuerwaffen. Der
Hauptmann musterte mich skeptisch.
„Ihr wollt Traktoren bauen?“
Ich nickte.
„Gemeinsam mit uns?“
„Ja.“
„Warum?“
„Um den Ertrag unserer Landwirtschaft zu steigern.“
„Das würden wir auch gerne, aber Traktoren helfen
uns da nichts. Von denen haben wir genug.“
„Was fehlt euch?“
„Diesel.“
„Wir wollen welche mit Elektromotoren bauen.“
Erstaunte Ausrufe und Gelächter der Bewaffneten erklangen.
Der Hauptmann sah mich skeptisch an.
„Klingt interessant, was habt ihr zu bieten?“
232
„Jede Menge Knowhow und einige Dutzend leistungsstarke,
für Busse entwickelte Radnaben-Motoren. Von
denen können wir jederzeit mehr produzieren.“
„Was wollt ihr von uns?“
„Ihr sollt in Sindelfingen oder Raststatt Chassis für die
Traktoren produzieren. Außerdem war die Universität
Karlsruhe an der Entwicklung des Elektro-Traktors
von John Deere beteiligt. Ihr habt Zugang zu deren
Knowhow. Außerdem sollt ihr uns im Motorenwerk in
Untertürkheim und in der Gießerei in Mettingen in
Ruhe lassen, also keine Heckenschützen, kein Granatbeschuss
und auch sonst nichts.“
„Wir könnten uns die Werke einfach holen.“
„Weder die Motoren noch unser Knowhow sind aktuell
dort. Außerdem können wir das Werk und die Maschinen
leicht zerstören.“
„Woher nehmt ihr das Lithium für die Batterien?“
„Wasserstoff und Brennstoffzellen tun es auch.“
Wir benötigten zehn Tage, um Mazedonien zu durchwandern.
Regelmäßig überholten uns kleine Gruppen
von Landsleuten. Der Weg war einfach zu finden. Bei
jeder Gabelung war ein großes D samt Pfeil mit Farbe
auf den Boden oder ein Stück Holz gemalt. An kleinen
Ständen oder mittels Schilder an ihren Häusern verkauften
die Mazedonier Lebensmittel. Die meisten
verhielten sich uns gegenüber freundlich, aber distanziert.
Am letzten Tag tauchten unvermittelt Gräber mit
einfachen Holzkreuzen am Straßenrand auf. Deutsche
Namen waren aufgemalt oder eingeritzt.
„Woran die wohl gestorben sind?“
Keller zuckte mit den Achseln.
„An Krankheiten, Unfällen oder auch Überfällen.“
233
Erstmals seit dem Betreten europäischen Bodens wurde
mir bewusst, dass ich möglicherweise meine Heimat
nicht lebend erreichen würde. Was wollte ich
überhaupt dort, ohne Carolin, Pauline und Yannick?
Im Camp vor der serbischen Grenze weinte ich mich in
den Schlaf.
Am nächsten Morgen weckte Keller mich erneut in aller
Frühe. Hier war weniger los, als an der Grenze zwischen
Griechenland und Mazedonien. Es wunderte
mich nicht, nächtigten damals doch alle Passagiere der
Medusa gleichzeitig mit uns am Übergang. Gut zweihundert
Kilometer zu Fuß hatten das Feld in die Länge
gezogen. Die Serben ließen uns gegen eine Gebühr
von hundert Dollar pro Nase passieren.
Auf der anderen Seite der Grenze sah es auf den ersten
Blick nicht anders aus. Graue Häuser und Hütten
säumten den Weg. Mit der Zeit erkannte ich dann
doch Veränderungen.
„Den Serben geht es besser als den Mazedoniern.“
„Wie kommst du darauf?“
„Auf der Autobahn dort drüben fährt hin und wieder
ein Lastwagen, manchmal sogar ein normales Auto.“
„Die Serben verstanden sich schon immer gut mit den
Russen. Offensichtlich ist das in diesen finsteren Zeiten
von Vorteil. Russland besitzt Öl und eine Industrie,
die Fahrzeuge und Ersatzteile herzustellen vermag.“
„Bestimmt sind deshalb alle Ortsschilder nur noch in
kyrillischen Buchstaben geschrieben. In Mazedonien
standen die Ortsnamen zumindest auch in lateinischen
Buchstaben darunter und waren somit für uns
lesbar. Fällt dir sonst noch etwas auf?“
„Nein. Was sollte mir sonst noch auffallen?“

234
„Gestern sind wir an mindestens zwanzig Gräbern vorbeigekommen,
heute an noch keinem einzigen.“
„Was willst du damit andeuten?“
„Mein wissenschaftlich geschulter Verstand sagt mir,
dass dies kein Zufall sein kann. Wären Krankheiten
oder Unfälle die Todesursache, müsste es hier annähernd
gleichviele Gräber geben.“
Erneut sagte Keller nichts. Ich wusste, dass er unangenehme
Sachverhalte am liebsten verdrängte. Die auffällige
Häufung der Gräber beschäftigte mich jedoch.
So fuhr ich fort:
„Der Wolf des Deutschen ist der Deutsche.“
„Du glaubst, unsere Landsleute meuchelten sich dort
vor der Grenze gegenseitig?“
Ich nickte.
„Warum gerade dort und nicht schon früher?“
„Die Antwort ist doch nun wirklich nicht schwer.“
„Wegen den hundert Dollar für die Grenze?“
„Ja. Wem auf dem Weg nach Hause das Geld ausgeht,
der dürfte ziemlich verzweifelt sein. Die Einheimischen
verbarrikadieren sich in ihren Häusern. Bestimmt steht
bei jedem mindestens eine Flinte vor dem Bett. Ob die
Dollars im Haus haben, ist mehr als ungewiss. Da erscheint
mir ein Überfall auf in ihrem Zelt kampierende
Rückkehrer wie uns weniger riskant.“
Eine Zeit lang trotteten wir schweigend nebeneinander
her. Bis ich es erneut nicht aushielt, meine Sorgen
zumindest aussprechen musste.
„Die Vorstellung, dem Bürgerkrieg entflohen zu sein,
um dann tausend Kilometer von der Heimat entfernt
durch die Hand eines verzweifelten Landsmanns zu
sterben, hat etwas unerträglich Zynisches.“
235
*
Woher waren im satten Europa der Hass, das gegenseitige
Unverständnis, der Wunsch nach Abgrenzungen
und Grenzen aufgetaucht? Ich wusste es nicht. Aber
deren Zeit war genauso unvermittelt wieder vorbei,
wie sie einst begonnen hatte. Noch auf der Brücke in
Hofen hatte Muttach unter dem Jubel seiner Männer
entschieden, mit uns Traktoren zu bauen. Meine zaghafte
Nachfrage, ob er dies überhaupt entscheiden könne,
hatte er brüsk zurückgewiesen. Es solle nur jemand
wagen, sich einem Projekt gegen den Hunger im Land
in den Weg zu stellen. Seine Männer hatten seine Worte
mit einem grimmig entschlossenen Nicken unterstrichen.
Muttach war im Zivilleben selbst Ingenieur. Er
hatte versprochen, bereits am nächsten Tag mit einer
Delegation von Ingenieuren und Technikern an der
Brücke nach Untertürkheim zu erscheinen.
Dort wartete ich jetzt angespannt. Die Nachricht, wir
planten gemeinsam mit den Anderen Traktoren zu bauen,
verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Alle hofften auf
ein Ende des Hungers und des sinnlosen Tötens. Die
Kämpfer blickten immer wieder mit einer Mischung
aus Bangen und Hoffen in meine Richtung. Würde
Hauptmann Muttach Wort halten? Oder war das Ganze
nur eine Finte, um uns in Sicherheit zu wiegen und gewaltsam
den Neckar zu überqueren? Hinter mir hielt
sich eine Delegation unserer Ingenieure bereit.
„Sie kommen!“, rief ein Wachposten.
Ich lief vor zur Brücke. Es dauerte zwei endlose Minuten,
bis auch ich sie sehen konnte. Muttach trug zivil.
In der Hand hielt er eine weiße Fahne. Ihm folgten ein
gutes Dutzend Männer, alle in zivil und zumindest auf
den ersten Blick unbewaffnet. Die Anspannung der
Umstehenden stieg. Waffen wurden entsichert und auf
die Gruppe Männer gerichtet. Im Wissen, dass der
236
Übergang vermint war und im Falle eines Angriffs
samt mir darauf gesprengt werden würde, ging ich der
Delegation entgegen. In der Mitte der Brücke trafen
wir aufeinander. Muttach blieb stehen, nickte mir zu.
„Wollen wir?“
„Und ob wir wollen!“
Wir reichten einander die Hand. Dann machte ich
kehrt. Nebeneinander her liefen wir auf unsere Seite.
Die Läufe der Waffen meiner eigenen Leute folgten
uns. Noch immer fürchteten diese, die anderen seien
keine Menschen, sondern heimtückische Ungeheuer,
die jeden Augenblick eine Waffe zücken oder sich
selbst in die Luft sprengen würden. Herr May, unser
leitender Ingenieur, löste sich als erster aus der Gruppe.
Er stellte sich vor, schüttelte Hände und meinte:
„Ich dachte wir greifen auf die Grundkonstruktion des
MB-Trac 700 zurück. Fahrgestell, Lenkung, Bremsen,
Hydraulik und selbst die Aufbauten können wir ohne
Probleme übernehmen. Nur für…“
Fachsimpelnd machten die Männer sich auf den Weg
in Richtung des altehrwürdigen Werksgeländes. Einige
der dortigen Konstruktionsbüros waren vorbereitet
worden. Selbst Computer mit halbwegs aktuellen CAD-
Programmen und Strom aus dem Wasserkraftwerk
standen dort zur Verfügung, in unserer Zeit alles andere
als eine Selbstverständlichkeit. Bescheiden folgte
ich den Technikern, die jetzt die Hauptarbeit zu leisten
hatten. Mein Part würde sich zunächst auf das Organisatorische
beschränken. In den Augen manch hartgesottenen
Kämpfers, den wir passierten, standen Tränen
der Hoffnung oder gar der Rührung.
*
237
An der Donau, irgendwo zwischen Belgrad und Novi
Sad passierte es. Trotz finsterer Nacht war ich auf einem
Schlag hellwach. Durch die Dunkelheit drang ein
Rascheln und leises Flüstern zu mir. Zu unserem
Schutz hatten wir uns mittlerweile mit einer Gruppe
Männer zusammengetan, die wir vage von der Medusa
kannten. So standen insgesamt vier Zelte unter den
Bäumen. Ich rüttelte den neben mir liegenden Keller
an der Schulter. Sofort war auch er wach. Wir schälten
uns so leise wie möglich aus den Schlafsäcken, was in
dem engen Zelt alles andere als einfach war. Ich hatte
mich gerade befreit, als lautes Gebrüll erklang. Hastig
zog ich den Reißverschluss des Zeltes auf und robbte
nach draußen. Keller stieg mit seinem Knüppel in der
Hand über mich hinweg. Zwischen den schweren Wolken
kam kurz eine schmale Mondsichel zum Vorschein.
Ich sah, wie jeweils zwei Männer mit Stöcken
auf zwei bereits zusammengebrochene Zelte einschlugen.
Keller erreichte den ersten, zog ihm mit seinem
Knüppel eine über den Kopf. Aus unserem vierten Zelt
traten soeben zwei weitere Männer mit Knüppeln.
Mein eigener Prügel lag neben meinem Schlafsack. Ich
langte ins Zelt, griff meinen gepackten Rucksack samt
Schlafsack und machte mich davon.
*
Hinter uns lag der schrecklichste Hungerwinter des
Bürgerkriegs in Schwaben. Ich hätte dies nicht für
möglich gehalten, da bereits im ersten Kriegswinter in
und um Stuttgart Zehntausende verhungert waren.
Meine Schwester Pauline arbeitete mittlerweile als
Ärztin im Städtischen Klinikum in Bad Cannstatt,
nicht weit von unserer neuen Traktoren-Fabrik ent-
238
fernt. Rund um die Uhr war von allen Beteiligten am
gemeinsamen Projekt gearbeitet worden. Rechtzeitig
zur Aussaat konnten wir die ersten Traktoren ausliefern.
Parallel waren alle regenerativen Stromerzeuger
soweit es ging instandgesetzt und eine Infrastruktur
aufgebaut worden, um Mittels Wasserspaltung reinen
Wasserstoff zu erzeugen.
Heute war einer der ersten richtig warmen Frühlingstage.
Vor meinem geöffneten Fenster sangen voller Optimismus
und Inbrunst die Vögel. Eine Sekretärin betrat
ohne anzuklopfen mein Büro. Mit gerunzelter Stirn sah
ich zu ihr auf. Ihre fiebrige Erregung verriet, dass etwas
Ungewöhnliches passiert sein musste.
„Gabriela, was ist passiert?“, fragte ich alarmiert.
„Da draußen fragt ein älterer Mann nach Ihnen. Ich
glaube, es handelt sich um ihren Vater.“
„Mein Vater!“
Ich sprang auf. Mein Herz pochte wild. Mit schnellen
Schritten verließ ich mein Büro und eilte den Flur in
Richtung des Sekretariats hinunter. Hektisch klappernde
Absätze verrieten, dass Gabriela mir folgte. Offensichtlich
wollte sie unser Wiedersehen nicht verpassen.
Ich bog um die Ecke. Dort, in dem kleinen Wartebereich,
saß er, ein alter, ungepflegter und erschöpft wirkender
Mann. Der Vollbart verbarg einen Großteil des
Gesichts. Dennoch erkannte ich ihn sofort. Weinend lagen
wir einander in den Armen.
Ich weinte vor lauter Erleichterung und Glück. Es tat
so gut, Yannick in meinen Armen zu halten. Erst als ich
mich einigermaßen beruhigt hatte, ließ ich von ihm
ab.
„Mama ist leider…“
Ein Kloß in meinem Hals verhinderte, dass ich die
schreckliche Nachricht aussprechen konnte.
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„Ich weiß“, antwortete mein Sohn sanft, „Pauline hat
mir Mamas Grab gezeigt.“
„Pauline? Sie lebt?“
„Ja, wir wohnen zusammen.“
Vor lauter Glück bekam ich einen Schwächeanfall. Ich
taumelte rückwärts. Yannick fasste mich rasch und geleitete
mich zu einem Stuhl. Eine schier unerträgliche
Mischung aus Erleichterung, Dankbarkeit und
schwerster Schuld zerriss mich innerlich schier. Feige
und untätig hatte ich Keller sterben sehen. Keinen Finger
hatte ich gerührt, um Sascha vor dem qualvollen
Tod im saudischen Knast zu bewahren. Trotzdem oder
vielleicht auch gerade deswegen hatte ich überlebt.

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